Derzeit spricht kaum etwas dafür, in die Finanzmärkte einzusteigen

Zuletzt gab es gute Gründe, den Finanzmärkten fernzubleiben. Jetzt stellt sich die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für den Einstieg. Für Andres Enke, Vorstand bei der Geneon Vermögensmanagement AG, ist der noch nicht gekommen.


Erst Corona, dann plötzlich Inflationssorgen und jetzt noch der fürchterliche Krieg Russlands gegen die Ukraine. Kein Wunder, dass die Stimmung an den Finanzmärkten gedreht hat. Das Dax hat in diesem Jahr bereits rund elf Prozent an Wert verloren. Das entspricht in fast dem Doppelten dessen, was das deutsche
Standardwertebarometer historisch betrachtet pro Jahr zulegt. Die Wall Street hat gemessen am S&P 500 sogar n och etwas mehr an Boden verloren. Der Technologieindex Nasdaq 100 liegt sogar seit Jahresanfang mehr als Prozent im Minus.


Grundsätzlich wollen und sollten die meisten Anleger investiert sein. Denn mit Cash auf der Bank lässt sich schon lange kein Geld mehr verdienen, vielmehr zehrt es das reale Vermögen auf. Ein zwischenzeitlicher Ausstieg drängt sich immer nur dann auf, wenn es große Krisen gibt. Der Zusammenbruch von Lehman Brothers war so eine Situation, der mögliche Staatsbankrot Griechenlands ebenfalls oder auch die
Pandemie 2020.


Kriegsfolgen nicht absehbar
Jetzt sind es die Gräueltaten der Russen in der Ukraine und eine mögliche Eskalation des Krieges in andere Länder mit international kaum kalkulierbaren Konsequenzen, die die Anleger von den Finanzmärkten fernhalten. Bereits vorher belasteten plötzlich galoppierende Inflationsdaten und damit verbunden die Angst vor steil steigenden Zinsen und die nicht enden wollende Pandemie die Stimmung der Anleger. Kurzum: In den vergangenen Monaten war es richtig, nicht dabei zu sein.


Der Ausstieg ist aber immer nur die eine Seite der Medaille. Ebenso wichtig ist der rechtzeitige Einstieg, der häufig noch schwerer fällt, weil die Nachrichtenlage meistens noch recht negativ ist. Für die Anleger gilt es, die wesentlichen Belastungsfaktoren abzuklopfen, um früh genug zu erkennen, ob und wenn ja wann eine Entspannung in Sicht ist.


Wall Street dominiert
Entscheidend ist vor allem die Entwicklung in den USA, da die nach wie vor größte Volkswirtschaft der Welt sowohl konjunkturell als auch an den Finanzmärkten den Takt vorgibt. In Bezug auf die Geldpolitik stehen hier erst einmal die Ampeln auf Rot. Nach der ersten Zinserhöhung im März erwarten die Märkte weitere Zinsschritte, die nächsten sogar um 0,5 Prozent. Gleichzeitig wird die Fed voraussichtlich ihr Tapering
beschleunigen.


Besser sieht es bei der Fiskalpolitik aus. Doch das angekündigte Konjunkturpaket in Höhe von 1,9 Billionen Dollar sollte längst eingepreist sein. Gleichzeitig dürfte die Schätzung der OECD für das Wachstum der US-Wirtschaft mit 3,7 Prozent fürs laufende Jahr zu hoch gegriffen sein. Hier ist also auch kaum eine positive Überraschung zu erwarten. Schließlich wirken sich die massiv gestiegenen Preise für ÖL und Gas in den Vereinigten Staaten unterschiedlich aus. Den Exporteuren bringen sie unerwartete Gewinne, der Konsum und das produzierende Gewerbe im Inland leiden dagegen unter den erhöhten Energiekosten. Unterm Strich sind von den USA für die internationalen Finanzmärkte kaum positive Impulse zu erwarten.

Noch schlechter zeigt sich die Lage in Europa. Hier steht die EZB vor dem Dilemma einer kriegsbedingt geschwächten Wirtschaft und einer stärker steigenden Inflationsrate. Die europäischen Geldpolitiker werden wohl kaum um einen Stopp der Anleihekäufe und den einen oder anderen Zinsschritt herumkommen. Konjunkturell sieht es etwas besser aus, nicht zuletzt dank des Green Deals. Aber die
Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland und umgekehrt der mögliche Stopp russischer Gaslieferungen sind noch lange nicht absehbar. Der Krieg in der Ukraine dürfte das Wirtschaftswachstum in der EU massiv belasten. Dazu kommt noch der unsägliche Brexit, der auch noch nicht wirklich verarbeitet ist.


China macht wenig Hoffnung
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob von der Volksrepublik entscheidende Impulse zu erwarten sind. Die Antwort lautet: leider nein. Zwar hat die Notenbank in Peking zuletzt die Leitzeinsen geringfügig gesenkt. Aber die Restriktionen im Immobilienbereich bleiben vorerst bestehen. Dasselbe gilt für die Tech-Konzerne. Hier soll es zwar vorerst keine weiteren „Strafmaßnahmen“ geben, die bereits bestehenden werden aber auch nicht gelockert oder aufgehoben.


Unterm Strich wird China selbst nach eigenen Prognosen in diesem Jahr so langsam wachsen wie seit Jahrzehenten nicht mehr. Zudem gibt es weiter die geopolitischen Spannungen mit den USA und mit Taiwan. Positiv ist zumindest, dass sich in China die Energieversorgung wieder stabilisiert. Das erfolgt allerdings durch die Ausweitung der Kohleverstromung und den Ausbau der Kernenergie massiv auf Kosten der Umwelt.


Insgesamt negatives Gesamtbild
Alles in allem spricht derzeit kaum etwas dafür, schon wieder in die Finanzmärkte einzusteigen. Anleger sollten aber nicht warten, bis sich das „big picture“ wieder insgesamt positiv zeigt, sondern bereits bei den ersten anhaltenden Besserungstendenzen reagieren. Dabei gilt es, zu erkennen, welche der negativ
wirkenden Informationen bereits im Markt verarbeitet wurden - natürlich genauso, welche neuen Informationen gerade dazukommen. Zu einer Korrektur der eigenen Entscheidung müssen alle Anleger heute jederzeit bereit sein. Die Unsicherheit ist einfach zu groß. Trotzdem ist es langfristig keine gute Entscheidung, nicht investiert zu sein.


Über den Autor:
Andreas Enke zählt zu den Inhabern und Vorständen der Vermögensverwaltung Geneon Vermögensmanagement. Der Diplom-Kaufmann verfügt über mehr als 28 Jahre Berufserfahrung in der Beratung vermögender Privat- und Geschäftskunden bei verschiedenen Großbanken.

Andreas Enke